Giesserei-Fachzeitschrift, November 2020
Walzenguss hat im Siegerland jahrhundertealte Tradition. So auch bei Walzen Irle, das die unentbehrlichen auf Leonardo da Vinci zurückgehenden Industriewerkzeuge nun seit 200 Jahren gießt und die Industrialisierung damit entscheidend befeuert hat. Das Familienunternehmen steht im Corona-Jahr mit seinem diversifizierten Produktspektrum relativ gut da – und baut auf Fortschrittsorientierung und Highend-Fertigung als Erfolgsrezept.
VON ROBERT PITEREK, DÜSSELDORF
Fortschritt und Guss – das war für Walzen Irle bereits im Jahr 1895 untrennbar miteinander verbunden. Das Unternehmen brachte damals den weltweit ersten Motor-Omnibus ins Siegerland. Mit sechs Innen- und zwei Außenplätzen beförderte das neuartige Fahrzeug Fahrgäste von Siegen ins 15 Kilometer entfernte Netphen-Deuz. Statt mit dem Pferd zur Arbeit zu reiten oder die Kutsche zu nehmen, nutzten auch Gießereimitarbeiter das eigentümliche Gefährt, das wie eine Postkutsche aussah, aber von einem frühen Mercedes-Motor angetrieben wurde. Damit war der wie von Geisterhand angetriebene Omnibus mit den riesigen Speichenrädern vor 125 Jahren ein Symbol des innovativen und fortschrittlichen Siegerlands mit seinem industriellen Kern in der Eisen- und Stahlindustrie, dem Bergbau, der Verhüttung sowie der Eisenerzeugung.
Innovativer Familienclan
Auch Walzen Irle war schon damals Grundpfeiler des Fortschritts und wichtiges Glied der regionalen Industrie. Schließlich waren und sind Walzen ein elementares Werkzeug u. a. zur Produktion von Blechen, Profilen aller Art und Papier, den Grundbestandteilen der Industriegesellschaft im Automobil- und Maschinenbau, im Bahnverkehr sowie in Bildung und Verwaltung. Der Betrieb fertigte Ende des 19. Jahrhunderts bereits seit einem Dreivierteljahrhundert Walzen – zunächst für die Stahl-, später auch für die Papier- und Kunststoffindustrie. Der Name Irle wird im Siegerland aber nicht nur mit Eisen in Verbindung gebracht. Auch die hiesige Bierbrauerkunst geht auf einen Spross der Unternehmerfamilie zurück, die ihren Ursprung in einem „Hof von den Erlen“ etwas weiter nördlich von Netphen hat und ihren Stammbaum bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen kann. Eisenguss fertigten die Irles schon seit Ende des 17. Jahrhunderts. Erste Versuche, Walzen aus Eisen zu gießen, unternahmen die Urahnen Hermann und sein Sohn Johannes vor mittlerweile 200 Jahren.
Feierlichkeiten platzen wegen Corona
Ein willkommener Anlass für den heutigen Stammhalter und geschäftsführenden Gesellschafter Dr.-Ing. Petrico von Schweinichen sowie Geschäftsführer Thomas Fink ein Jubiläum anzusetzen, das ursprünglich in diesem Sommer gefeiert werden sollte. Doch Corona machte den Managern einen Strich durch die Rechnung. „Schweren Herzens haben wir das Jubiläum abgesagt. Die Pandemie macht vor Feierlichkeiten nicht halt“, blickt Fink zurück. Nicht eingestellt wurde die Walzenfertigung, die nur wenig beeinträchtigt weiterlief und statt des Umsatzergebnisses von 55 Mio. Euro im vergangenen Jahr voraussichtlich noch über 50 Mio. Euro in 2020 einspielen wird. Zwar fahren die Gießer in den Werken I und II in Netphen und dem anderthalb Kilometer entfernten Stadtteil Deuz derzeit nur an vier Tagen die Woche Dreischichtbetrieb, weil manche Kunden ihre Aufträge vorerst zurückgestellt haben. Einen finanziellen Verlust durch Kurzarbeit haben sie aber nicht. Die jetzt weniger gearbeiteten Stunden werden über Arbeitszeitkonten ausgeglichen.
Gewaltiger Energieaufwand
„24 neue Corona-Fälle in Netphen“. Mit dieser Nachricht startet der Arbeitstag Anfang Oktober in der Gießerei in Werk II. Es sollen überwiegend Schulkinder erkrankt sein, heißt es. Jemand flucht über die Schulen, obwohl sich hier keiner einen neuen Lockdown und erneute Schulschließungen ausmalen will. Im Werk selbst mit seinen Oberlichtern in gut zehn Metern Höhe, den backsteinernen Wänden und dem Hall von schwerem Arbeitsgerät in der Ferne ist die Sorge vor Corona wie weggeblasen. Hier werden Walzen von bis zu 17 Metern Länge und 1,7 Metern Ballendurchmesser statisch oder im Schleudergießverfahren abgegossen. Dafür stehen in mehreren Hallen tiefe Gießgruben für statische Abgüsse sowie horizontale und vertikale Schleudergießanlagen bereit. Um die Fertigung solch riesiger Walzen vom Abguss bis zum Finishing zu realisieren, ist sehr viel Energie erforderlich. Rund 60 GWh Energie fließen pro Jahr durch die Strom- und Gasleitungen in Schmelzaggregate, Dreh-, Hon- und Schleifmaschinen, Schleudergießanlagen, Walzensägen, Heizungen, Glühöfen und vieles mehr – der Gegenwert des Energiebedarfs von rund 15 000 Familienhaushalten. „Wir können ad hoc 90 Tonnen Flüssigeisen bereitstellen. Um unsere schwersten 130-Tonnen-Walzen abzugießen, stellen wir die Schmelze mit entsprechender Speichertechnik bereit“, erklärt Torsten Locker, Gießereileiter und Freiberg-Absolvent, der bereits auf 30 Jahre Berufserfahrung bei Walzen Irle zurückblickt. Sein Team aus Meistern und Fachkräften ist gut aufgestellt und eingespielt. Viele sind wie er mehr als 30 Jahre hier und üben ihren Beruf entsprechend routiniert und zugleich mit Ehrfurcht vor den Alltagsgefahren aus.
Das Beste aus Tradition und Moderne
„Ihr könnt die Algorithmen starten“, gibt Locker jetzt an Schmelzmeister Wagener weiter. Die Schmelz- und Gießtechnik, die auf Erfahrungswerten von zwei Jahrhunderten fußt, ist heute mit moderner Technologie gekoppelt. Locker setzt mit der Anweisung einen Mechanismus in Gang, der von Anfang an sicherstellen soll, dass der heutige Abguss einer Profilwalze für ein spanisches Stahlwerk gelingt. Sie wird einmal Schienen für den Eisenbahnverkehr walzen und besteht aus einem stahlähnlichen Eisen mit nur 1,3 Prozent Kohlenstoff. Mittels Computeralgorithmen erfolgt zunächst die Auswertung der Schmelze per Probenkörper. Hierdurch werden ihre Liquidus- und Soliduswerte bestimmt und Abstich- und Gießtemperatur sowie Qualitätswerte ermittelt. Der Grund für die Analyse ist einfach: Misslingt der Abguss, können je nach Größe und Komplexität Walzen im Wert von 25 000 bis 850 000 Euro buchstäblich in den Sand gesetzt werden.
Um das zu verhindern oder Aufwand und Kosten zumindest zu begrenzen, ist ein umfangreiches Qualitätsmanagement in Kraft, das auch nach dem Abguss u. a. mit Ultraschallmessungen fortgesetzt wird. Die Analyse läuft, als der Besuchertrupp um Werksleiter Locker die Bühne des Schmelzbetriebs über eine Metallleiter erklimmt und schließlich oberhalb der fünf Schmelzaggregate ankommt. Die einen Spalt geöffneten, nebeneinander in einer Reihe angeordneten Kippöfen geben gleißendes Licht und Hitze frei. Sie können 66 der 90 Tonnen Schmelzkapazität bereitstellen und in alle Richtungen des Werks verteilen. Schließlich schweben nacheinander zwei 20-Tonnen-Pfannen am Hallenkran heran, begleitet von einem Werker im silbernen Schutzanzug, der den Kran per Funk steuert. Wenig später ergießt sich funkensprühend ein orangegelber Schmelzstrom in die Pfanne. Als der Ofen bis zum Anschlag gekippt ist, versiegt der Strom. Jetzt folgt Pfanne 2, während die hitzeschutzbewehrten Werker das erste Schmelzgefäß abschlacken. Zwischen den Pfannen liegen farblich gekennzeichnete Späne in kleinen Haufen am Boden, die der Schmelze je nach Legierungszusammensetzung beigegeben werden.
Countdown zum Abguss
Als die tonnenschwere Walzenschmelze vollständig für den Abguss bereitsteht, heben Werker die rund zwei Meter hohen Pfannen per Kran auf Schienenfahrzeuge und fahren sie in die Nebenhalle. Die Schmelztöpfe qualmen und strahlen an ihrer Spitze eine orangefarbene Aura an Schmelzenergie ab, die sich in den Hitzeschutzvisieren der Werker spiegelt. In ihren Mienen spiegelt sich zugleich konzentrierte Aufmerksamkeit, denn die Zeit drängt. Das Zeitfenster mit der erforderlichen Abgusstemperatur von rund 1480 Grad beträgt nur 20 Minuten. Heute wird statisch abgegossen. Dafür steht eine Kokille mit zwei langen Gießeinläufen aufrecht in einer tiefen Gießgrube, die mit einem Geländer gesichert ist. Rechts und links über den Einläufen werden die Pfannen jetzt in Position gebracht. Die Luft knistert von der Anspannung in der fußballfeldgroßen Halle, wo übermannsgroße aufrecht stehende Kokillen am Rand der Gießgrube im flackernden Schein der lodernden Schmelze die gewaltige Anstrengung der Aufgabe sowie ihre Dimensionen ins rechte Licht rücken.
Dann ist es soweit und der Schmelzestrom ergießt sich von beiden Seiten in die Einläufe mit den breiten Trichtern und sinkt bis zum untersten Ende der Gießgrube durch den Unterkasten aus Sand rotierend durch die Gießkokille wieder nach oben. Eine Technik, die Verunreinigungen vorbeugen und Lunkerbildung unterbinden soll. Auf einer Empore überwacht derweil ein Gießer den Schmelzestand. Bald scheint es, als stehe er inmitten eines tosenden Feuermeers zwischen den sich immer weiter senkenden Pfannen. Nach etwa anderthalb Minuten ebbt der Strom ab – das Schauspiel ist zu Ende. Die in der Kokille eingeschlossene Walze wird nun sieben Tage brauchen, bevor sie vollständig erstarrt ist.
Wirtschaftliche Stabilität durch Diversifizierung
Die Idee von Walzen als Kraftübersetzung stammt ursprünglich vom Universalgenie Leonardo da Vinci aus dem 15. Jahrhundert. Ihre industrielle Nutzung startete im 19. Jahrhundert. Heute ist die Fertigung zahlreicher Produkte wie Bleche, Profile, Folien und Papier durch den Einsatz von Walzen geprägt. Ebenso diversifiziert ist das Kunden- und Produktspektrum von Walzen Irle: Es reicht von der Stahl-, Flach- und Profilindustrie über die Ernährungsindustrie bis zur Papier- und Folienindustrie. Einen kleinen Teil des Umsatzes macht die Walzengießerei auch mit abrasivem Verschleißguss wie Mahlschüsseln für Mühlen oder extrem verschleißfesten Pumpenlaufrädern, die in Maschinen zum Einsatz kommen, mit denen z. B. künstliche Inseln in Dubai aufgeschüttet werden. „In Zeiten wie diesen, wo die Stahlindustrie schwächelt, ist unser vielfältiges Produktspektrum ein Segen“, erklärt Geschäftsführer Fink. Dann können boomende Industriebereiche die einbrechenden Umsätze an anderer Stelle ausgleichen.
Durch Corona boomt aktuell die Verpackungsbranche, was etwa an den Aufträgen für Folienwalzen abzulesen ist. Auch die Papierbranche ist derzeit stark, wie von Schweinichen und Fink beobachtet haben. In guten Zeiten dagegen empfinden die Netphener Unternehmer die Diversifizierung als Fluch, denn jetzt müssen sie sich mit Spezialisten in aller Welt messen, deren Geschäftsstrategie häufig nur auf einer einzelnen Walzengruppe beruht. „Die Betriebskosten solcher Spezialisten sind niedriger und bei uns kommen noch die Kosten des Bahnbetriebs zwischen Werk II und I dazu“, weiß Gießereileiter Locker.
Werksbahn verbindet Gießerei und Bearbeitung
Die Eisenbahnlinie zwischen Bearbeitung und Gießerei ist eine Kuriosität, die auf den Beginn des 20. Jahrhunderts zurückgeht. Im Jahr 1906 erhielt Netphen-Deuz einen Bahnanschluss und Walzen Irle legte in der Folge eigene Anschlussgleise in beide Werke. Der reguläre Bahnbetrieb ist inzwischen eingestellt. Geblieben ist einzig die Bahnstrecke zwischen beiden Werken, auf der nun in Eigenregie Tag für Tag die tonnenschweren Walzen von der Gießerei in Werk II zur Bearbeitung in Werk I pendeln. In umgekehrter Richtung gelangen so auch die abgetragenen Späne aus der Bearbeitung zurück in die Gießerei, wo sie wieder eingeschmolzen werden. Auch eine 100-Tonnen-Kalanderwalze, die jetzt noch in ihrer zwölf Meter tiefen Gießgrube steckt, wird den Weg zwischen den Werken bald auf der Werksbahn vertäut zurücklegen. Vor der Entnahme des Kolosses aus der Grube müssen die Netphener Gießer eine Halterung für das Steigrohr anbringen, das noch in der Walze steckt. Hierfür setzen sie einen Abbruchroboter ein, der Ähnlichkeit mit einem Mars-Rover hat. Vorsichtig befestigt die Maschine einen langen Stab am oberen Ende des Rohrs. Der Roboterarm überquert dabei langsam die gähnende Leere der Gießgrube. Dann ist es vollbracht und der zweite Teil der komplizierten Entnahme kann beginnen. Laut knarzend greift das ellendicke Stahlseil, als der Kran die Walze anhebt und in die Weite der Halle hochzieht. Wie beim Abguss säumen auch hier Kokillen wie riesige Besucher die Gießgrube. Die Männer mit ihren blauen Helmen wirken dagegen wie Kinder mit ihrem Spielzeug. Der Begriff Kalanderwalze stammt aus der Papierherstellung. Kalander bezeichnet ein System mehrerer aufeinander angeordneter beheizter und polierter Walzen. Nach der Anlieferung in Werk I wird die Kalanderwalze deshalb zahlreiche Bohrungen erhalten, in denen künftig ein Fluid fließt, das die Oberfläche der Walze auf über 200 Grad aufheizt und sie so zu einem riesigen Bügeleisen für Papier macht.
„Einfach kann jeder“
Die Konkurrenz von Walzen Irle sitzt überwiegend in Asien. Das Rezept, um keine Marktanteile an sie zu verlieren, ist die Fertigung hochlegierter, geometrisch anspruchsvoller und qualitativ astreiner Walzen. „Einfach kann jeder“, lautet das Motto in Netphen. Gemeinsam sind wir stärker – das Prinzip der Europäischen Union – scheint bei den Walzengießern aus dem Siegerland Vorlage für eigene Kooperationen gewesen zu sein. Denn seit Mitte des Jahres kooperiert Walzen Irle nun mit dem Wettbewerber Gontermann Peipers aus Siegen, der jetzt auch eine Minderheitsbeteiligung an dem Netphener Betrieb hält. Ziel ist die Standortsicherung. Die beiden Unternehmen kooperieren inzwischen in vier gemeinsamen Projekten. Schließlich sind beide Unternehmen hochgradig vom Export abhängig und leisten damit der Industrialisierung in aller Welt auch weiterhin Vorschub. Das Beackern gleicher Äcker ist da wenig sinnvoll.
Um technologisch an der Spitze zu bleiben, ist der Fortschritt, der das Unternehmen von Anfang an geprägt hat, weiterhin entscheidend. Irle arbeitet mit den Fraunhofer Instituten sowie mit den Unis in Siegen, Bochum und der RWTH Aachen zusammen, um kontinuierlich besser zu werden. Mithilfe der Additiven Fertigung wird etwa erprobt, ob Verschleißschichten additiv auf die Walzenoberfläche aufgetragen werden können. Auch Methoden der Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz sind im Einsatz oder werden erprobt. Um die Betriebskosten langfristig zu senken, ist zudem seit einiger Zeit ein eigenes Blockheizkraftwerk in Betrieb. „Damit erzeugen wir immerhin eine GWh Strom pro Jahr. Mit der Prozessabwärme im Werk wird darüber hinaus ein Altenheim in Netphen beheizt“, hebt Dr. Petrico von Schweinichen hervor. Zugleich behält die Geschäftsführung die Weiterentwicklung von Wasserstoff als Brennstoff der Zukunft genauestens im Blick. Diese Mischung aus Fortschrittsorientierung und sozialer Verantwortung, die sich auch an der guten Stimmung und der hohen Motivation unter den Gießern im Werk ablesen lässt, gilt bei Walzen Irle auch heute noch als Schlüssel für den erfolgreichen Fortbestand des Werks – und ist zugleich ein unverkennbares Merkmal des Mittelstands als Rückgrat der deutschen Wirtschaft.
Veröffentlicht unter www.giesserei.eu am 29.10.2020 sowie in der November-Ausgabe 2020 der Giesserei-Fachzeitschrift